Dieser Gastartikel wurde verfasst von Anna Maria Weber, Trainerin und Mitgründerin des VETO Instituts.
Wenn ich heute an mein Ich vor 13 Jahren zurückdenke, habe ich Mitgefühl. Zu diesem Zeitpunkt war ich angestellte Lehrerin im Berliner Schuldienst, hatte ein kleines Kind und das Gefühl, jegliche Selbstbestimmung über mein Leben verloren zu haben. Irgendwie war ich plötzlich Teil von Systemen, in denen sich aus A B ergab und dann selbstverständlich auch C. Wenn ich versuchte, mir Freiräume zu erkämpfen, saß ich irgendwie leer und erschöpft auf meinem Balkon und wusste nicht so richtig was mit mir anzufangen. Und zu dem Gefühl von Fremdbestimmung und systemischen Zwängen gesellten sich eine leise Enttäuschung und Frustration: Hatte ich nicht alles so gemacht, wie mensch das tun sollte? Studiert, mir einen netten Mann gesucht, Kinder bekommen. Ich hatte doch alles, warum war ich nicht glücklicher? Warum wirkte meine demonstrative Zufriedenheit irgendwie verordnet?
Im Rückblick würde ich der Anna von damals sagen: »Es ist schon ok, dass du dich so fühlst. Eigentlich ist es ein gutes Zeichen. Denn die Welt ist tatsächlich so viel größer, als du das gerade sehen kannst. Und du bist so viel mehr, als du das gerade fühlst. Aber es reicht, wenn du dich Schritt für Schritt dorthin bewegst, wo es sich ein kleines bisschen besser und wärmer anfühlt. Du brauchst dich nicht auch noch fertig machen mit Ansprüchen und Erwartungen an dich selbst.«
Heute bin ich zweifache Geschäftsführerin, gebe Workshops und Veranstaltungen und habe ein wundervolles Team. Ich kann mir meinen Tag selbst strukturieren, entscheiden, wann ich woran arbeite. Und als der nette Mann sich eine andere Frau suchte, konnte ich in Meetings immer wieder in Tränen ausbrechen, ohne dass irgendjemand meine fachliche Kompetenz in Frage stellte. Aber das vielleicht Schönste ist, dass ich einen Sinn in meiner Arbeit sehe, mich nicht mehr so viel anpassen muss und dass zwei meiner ehemaligen Schüler mittlerweile meine Kollegen sind.
Ich schreibe dies nicht, um Menschen neidisch zu machen. Im Gegenteil! Ich schreibe dies, damit sich mehr Menschen trauen, kleine, mutige Schritte in Richtung Wärme, Autonomie und Selbstakzeptanz zu gehen. Denn egal, wie verfahren sich berufliche oder private Situationen manchmal anfühlen, gibt es doch immer einen nächsten Schritt - und dann wieder einen nächsten. Vielleicht kommt nach A B aber vielleicht darf ich auch wieder zu A zurückkehren und mich fragen: Was will ich nicht? Was will ich? Wie will ich das? Und was brauche ich dafür? Und vielleicht ändert sich dann erstmal nur klein und unmerklich etwas in mir und plötzlich tauchen Menschen und Möglichkeiten in meinem Umfeld auf, die ich vorher nicht sehen konnte.
Wie ich diese Wege systematisch und mit anderen zusammen gehen kann, dafür bietet das Veto-Prinzip® ein riesig großes Instrumentarium, welches mir in den vergangenen 10 Jahren unglaublich beim Wachsen geholfen hat. Erfunden hat es die Disruptionsexpertin und Autorin Maike Plath und zwar aus einer verzweifelten Notsituation heraus. Wen die Geschichte dazu interessiert, kann sie in dem Dokufiktionsroman „Türwächter:innen der Freiheit“ nachhören oder lesen.
Hier nutze ich die verbleibenden Zeilen, um einen klitzekleinen Teil dieser Systematik zu erläutern. Denn auch das ist Teil meines heutigen Berufs, über den mein Sohn sagt, ich hätte ihn mir selbst ausgedacht: Ich gebe das Veto-Prinzip® weiter und schule Menschen darin, dies auch für andere zu tun.
Die vier Fragen aus dem ersten Teil des Textes sind der Ausgangspunkt in diesem Veto-Prinzip®. Und sie fangen mit dem Veto-Recht an.
Mit der Frage: »Was will ich NICHT?«. Mit der ganz persönlichen Verweigerung von Dingen, die ich nicht tun will, bei denen aber im Alltag oft sofort ein »eigentlich« dazukommt und wir dann eben doch über unsere Grenzen gehen. Und weil das im »echten Leben« oft so schwer ist, gibt es dafür erstmal Übungsräume, in denen ich mein Veto fühlen und erfahren darf, ohne dass gleich alles zusammenbricht.
Denn die meisten Menschen haben so lange geübt und gelernt, sich anzupassen, dass sie die Frage »Was will ich?« gar nicht mehr beantworten können. Und wie sollten sie auch? Es gibt kaum Räume, in denen genau das trainiert werden kann. In denen ich nicht riskiere, ausgeschlossen zu werden, wenn ich zeige, wer ich bin und was ich will. Der Autoritarismus-Forscher Prof. Dr. Heitmeyer sieht darin übrigens eine der größten Herausforderungen für unsere Demokratie. Denn wenn wir uns ständig anpassen, um dazu zu gehören, drücken wir Bedürfnisse weg und werden darüber traurig und wütend. Bei einigen drückt sich diese Wut dann in Trotz, Aggression und der Verweigerung zur Kooperation aus, bei anderen in Depression und Rückzug. Dies können wir gerade überall beobachten.
Aber was brauchen Menschen, damit sie kooperieren wollen und sich in ihrer ganzen Schönheit und Stärke einbringen zu können? Wie müssen Räume gebaut, wie geführt werden? Das führt mich zur dritten und vierten Frage: »Wie will ich das?« und »Was brauche ich dafür?« Denn das Leben ist kein Ponyhof und Kompromissbereitschaft und Frustrationstoleranz gehören dazu. Wenn ich aber sagen kann, wie ich etwas will, werden oft Dinge möglich, die vorher undenkbar waren. So hat sich z.B. unsere Buchhaltungsperson gemeinsam mit dem Team eine dreimonatige Schreibauszeit für queere Science Fiction gebaut oder eine chronisch erkrankte Mitarbeiterin einen Rhythmus gefunden, mit dem es ihr körperlich besser geht und sie gleichzeitig ihre Arbeit viel effektiver machen kann. Es ist absurd, wie viel Potenzial, gerade auch von sogenannten Highperformer:innen oft ungenutzt bleibt, weil diese beiden Fragen nicht gestellt werden oder wir uns nicht trauen, sie einzufordern.
Mein Traum wäre, dass es irgendwann immer mehr Veto-freundliche Unternehmen und Mitarbeitende gibt, die in der Lage sind, gemeinsam als vielfältige Teams Probleme anzuschauen und zu lösen. Wo »New Work« kein Marketing-Tool ist, sondern es tatsächlich ehrlich darum geht, dass sich alle Beteiligten gemeinsam eine würdiges und bedürfnisgerechtes Umfeld schaffen, in dem Qualität und sinnhafte Arbeit entsteht. Und es gibt immer mehr Menschen, die - wie ich damals - ein diffuses Gefühl von Fremdbestimmung und Frustration haben. Nicht, weil sie faul sind, sondern weil sie spüren, dass da noch mehr ist und sie sich gerne mit ihrem ganzen Potenzial in diese Welt einbringen und wirksam werden wollen. Und wenn es etwas gibt, was diese Welt dringend braucht, dann sind das genau diese Menschen!
Wer Lust auf kleine oder große Schritte ins Veto-Land hat, findet hier jede Menge Material und Weiterbildungsmöglichkeiten: www.vetoinstitut.de
Das Veto Institut bietet für Organisationen und Privatpersonen Qualifizierung, Zertifizierung und Beratung nach dem Veto-Prinzip® von Maike Plath an. Alle Angebote sind – unabhängig von beruflichen Abschlüssen – offen für alle Menschen, die lernen möchten, auf integre Weise ein Leben in Verantwortung für sich und andere zu führen. Sie richtet sich insbesondere an Personen, die in Führungsverantwortung sind, in eine Führungsposition oder ein neues berufliches Feld hineinwachsen wollen oder in ihrem privaten, beruflichen oder politischen Umfeld Resilienz und Verantwortung bei sich und anderen entwickeln und stärken möchten. Mehr Informationen zum Veto-Prinzip® findest du hier.
Über die Autorin
Anna Maria Weber beschäftigt sich seit 12 Jahren mit dem Veto-Prinzip®, hat das Institut mitgegründet und bildet Veto-Trainer:innen aus. In ihrem ersten Berufsleben war sie Lehrerin in unterschiedlichen Schulformen und hat nach ihrem Ausstieg ACT e.V. mit aufgebaut und weiterentwickelt.
Seit 2023 ist sie auch als Entwicklungsbegleiterin für Menschen und Organisationen unterwegs und verbindet diesen Ansatz mit dem Veto-Prinzip®.