Dieser Gastartikel wurde verfasst von Anna Sophia Feuerbach.
Der 10. Oktober ist für mich ein besonderer Tag.
World Mental Health Day. Welttag für seelische Gesundheit. Das war er nicht schon immer. Nein, um ehrlich zu sein, kenne ich den Tag erst seit wenigen Jahren.
Weil ich zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung traf, das Thema psychische Gesundheit – das in meiner persönlichen Geschichte eher ein Thema psychischer Erkrankungen war – nicht mehr auszuklammern. In diesem Jahr traf ich die Entscheidung, endlich alle Masken fallen zu lassen und zu mir als Person zu stehen, mit allen Facetten. Ich beschloss, das Schweigen zu brechen. Ich beschloss, mich dafür einzusetzen, psychische Erkrankungen aus der Tabuzone zu holen, sie besprechbar zu machen, dem Stigma entgegenzuwirken.
Seither hat der 10. Oktober für mich eine Bedeutung.
Für Dich wahrscheinlich nicht. Das ist okay.
Deine seelische Gesundheit sollte für Dich jedoch Bedeutung haben.
Denn eine psychische Erkrankung kann jede*n treffen, Dich genauso wie mich. Statistisch gesehen trifft es 1/3 aller Deutschen im Laufe ihres Lebens. Jede*n Dritte*n! Grund genug für jede*n Einzelne*n von uns, sich mit dem Thema zu beschäftigen, nicht?
Die Sache mit dem Stress
Wie genau eine psychische Erkrankung entsteht, ist noch immer Gegenstand der Forschung. Klar ist, es handelt sich um ein multifaktorielles Geschehen, an dem unsere Gene genauso beteiligt sind wie unser Umfeld und Erfahrungen in der Kindheit und Jugend.
Manche Menschen besitzen von Geburt an eine hohe Resilienz, andere sind verletzlicher, wieder andere haben gelernt sich ein »dickes Fell« zuzulegen.
Was wir jedoch alle haben, sind herausfordernde Situationen im Leben. Wir alle haben Stress. Das ist gar nicht nur negativ. Wir alle brauchen positiven Stress, um produktiv zu sein. Wir alle brauchen Herausforderungen, um zu lernen und über uns hinauszuwachsen.
Doch wenn der Stress überhand nimmt, kann uns das krank machen. Körperlich wie seelisch. Die meisten von uns wissen das auch. Genau wie die meisten wissen, dass wir regelmäßig für Ausgleich sorgen sollten, dass alles im Leben eine Frage der Balance ist. Doch Wissen alleine ist leider nicht genug. Und an der Umsetzung hapert es oft.
Warum ist es so schwer, Stress zu reduzieren?
1. Wir machen uns zu wenig Gedanken über unsere Stressoren.
Viele Menschen fühlen sich gestresst. Ein dicht getakteter Alltag, ein anspruchsvoller Job, »nebenbei« Familie, Kinder, Haushalt. Dazu noch eine Vielzahl von (oft unbewussten) inneren Stressfaktoren. Die Anspruchshaltung an uns selbst. Der ständige Vergleich mit anderen. Der innere Kritiker, der uns unnachgiebig vermeintliche Fehler vor Augen führt. Das Hadern mit Entscheidungen aus der Vergangenheit, die Ängste vor der Zukunft. Vieles, das unser Stresslevel permanent hoch hält.
Kommt jetzt noch der Tod eines nahen Angehörigen, eine körperliche Erkrankung, oder auch eine Beförderung, die Geburt eines Kindes, ein Umzug hinzu, kann es zu viel für unsere Psyche sein. Ja, auch an sich positive Ereignisse können starke Stressoren sein! Auch positive Veränderungen in unserem Leben können uns überfordern und unsere Welt ins Wanken bringen.
Deshalb ist es wichtig, uns regelmäßig darüber klar zu werden, welchen Berg an ganz individuellen Belastungen wir aktuell so mit uns herumtragen.
2. Wir wissen nicht, wie wir den Stress reduzieren sollen.
Okay, wenn wir ganz ehrlich sind, wissen wir es schon, oder? Wir alle brauchen eine gesunde Balance zwischen Spannung und Entspannung. Wir wissen, dass wir einen Ausgleich brauchen, dass wir uns regelmäßig etwas Gutes tun müssen. Sport, Musik, Kreativität, eine heiße Badewanne oder ein gutes Buch. Meine Erfahrung ist, die meisten Menschen wissen, was Ihnen gut tut. Die Herausforderung ist, diesen Dingen, der Zeit nur für uns selbst Priorität einzuräumen.
Die Herausforderung ist, NEIN zu sagen. Zu Freund*innen und Familie, aber auch zu unseren Kolleg*innen und Vorgesetzten. Aufgaben abgeben, die eigenen Grenzen definieren und dazu stehen, auch wenn es schwer fällt.
3. Wir haben Angst als schwach zu gelten, wenn wir die Grenzen unserer Belastbarkeit zeigen.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Viele von uns verknüpfen ihren Selbstwert direkt mit der eigenen Leistung. Wer sich am meisten auflädt, wer am meisten Stress hat, der wird für seine Stärke bewundert. Nicht umsonst ist ein Burnout die anerkannteste Form der Depression. Bedeutet diese Diagnose doch, dass die betroffene Person vorher unglaublich viel geleistet hat.
Hier darf sich in unserer Gesellschaft noch vieles ändern.
Bis dahin können wir bei uns selbst beginnen. Wir können für uns selbst definieren, dass Grenzen setzen und um Hilfe bitten eine Stärke ist. Dass ein NEIN zum Gegenüber immer auch ein JA zu uns selbst ist.
Und meine Erfahrung zeigt, wenn ich selbst die Grenzen meiner Belastbarkeit akzeptiere, wenn ich selbst in diesem Punkt klar bin, kann ich auch klar kommunizieren. Klar und freundlich Grenzen zu setzen, strahlt Stärke aus.
Haben wir nicht alle schon unsere Kollegin bewundert, die eine Anfrage des Chefs mit einem freundlichen »Sorry, ich habe gerade zu viele Aufgaben.« quittiert? Oder den Kollegen, der freundlich, aber bestimmt darauf hinweist, dass er jetzt das Kind aus der Kita holen muss, sich morgen aber gerne um die Aufgabe kümmert?
Solche und ähnliche gesunde Reaktionen ab sofort nicht mehr nur bei anderen Menschen schätzen, sondern selbst zu üben, ist schon ein großer Schritt in Richtung Stressreduktion.
Ist meine Psyche in Gefahr?
Der Übergang von normalen Belastungen im Alltag zu einer ernsthaften Erkrankung ist meist fließend. Viele Betroffene merken oft erst, wie weit sie ihre Grenzen überschritten haben, wenn es zu spät ist. Wenn gar nichts mehr geht. Wenn der Körper oder die Psyche streikt.
Dabei gibt es vorher meist typische Warnsignale. Sorgen und Ängste nehmen zu, wir können nicht mehr gut schlafen, sind erschöpft, launisch, empfindlich, unentschlossen. Manche Menschen essen zu viel, anderen vergeht durch zu viel Stress der Hunger. Viele ziehen sich zunehmend zurück, sind unkonzentriert, machen häufiger Fehler. Im schlechtesten Fall greifen wir zu Alkohol oder Drogen, um zwischendurch Entspannung zu finden. Auch nicht-stoffliche Süchte wie Online-, Spiel- oder auch Arbeitssucht sind häufig ein unglücklicher Versuch, mit permanenter Überlastung zurechtzukommen. Psychosomatische Beschwerden wie Kopf-, Rücken- oder Bauchschmerzen, Tinnitus, nervöse Zuckungen oder gar Lähmungen können ebenso ein Zeichen sein.
Welche Warnsignale letztlich auftreten, ist genauso individuell wie unsere Stressfaktoren selbst. Auch hier gilt: regelmäßig ehrlich in uns hinein hören. Uns selbst ernst nehmen. Nicht die Augen verschließen, sondern hinsehen. Und im Zweifel Hilfe suchen. Umso früher wir in Krisen Hilfe erhalten, umso leichter können wir sie überwinden.
Was, wenn ich professionelle Hilfe brauche?
Wir haben in Deutschland ein gut ausgebautes Hilfsnetzwerk, das manchmal etwas komplex erscheint. Da gibt es Psycholog*innen, Psychiater*innen, Psychotherapeut*innen, sozialpsychiatrische Dienste, Beratungsstellen, Kliniken, Ambulanzen, Telefonseelsorge und noch einiges mehr. Im Internet finden sich viele Informationen über Angebote vor Ort. Eine gute erste Anlaufstelle ist auch immer die*der Hausärzt*in.
Wichtig ist: jede*r Ansprechpartner*in ist im ersten Schritt die*der Richtige! Sollte es nicht hundertprozentig passen, kann jede Stelle an die nächste verweisen. Es braucht nur Mut für den ersten Kontakt, dann ergeben sich die nächsten Schritte oft von alleine.
Ich bin betroffen – Wie gehe ich damit jetzt um?
Eine akute psychische Erkrankung nimmt den Menschen völlig ein. Sie beeinflusst sein Denken, sein Fühlen und sein Handeln. Dennoch halten viele Betroffenen die Probleme über lange Zeiträume geheim. Genau wie ich.
Niemand ist verpflichtet, eine psychische Erkrankung offenzulegen. Gegenüber Freund*innen und Familie nicht, aber auch nicht gegenüber Vorgesetzten oder Kolleg*innen. Dennoch kann es in manchen Situationen sinnvoll sein. Etwa, wenn längere Phasen der Krankschreibung anstehen oder während einer Therapie die Belastbarkeit vorübergehend verringert ist. Oder einfach weil es heilsam ist, Vertraute zu haben.
Die Entscheidung, wann und mit wem der*die Betroffene spricht, darf der*diejenige jedoch immer ganz individuell treffen. Offenheit setzt Vertrauen voraus und kann, je nach Situation, mehr Vor- oder mehr Nachteile haben.
Deshalb gibt es an dieser Stelle in meinen Augen keinen allgemeingültigen Rat.
Wichtig für Betroffene ist ein stützendes Umfeld. Eine Handvoll Menschen, bei denen Offenheit möglich ist, bei denen die Maske fallen kann. Oft finden wir diese Menschen in Familie und Freundeskreis. Noch besser, wenn dieses Umfeld auch am Arbeitsplatz gegeben ist. Selbstverständlich ist es jedoch leider noch nicht. Noch immer gibt es viele Menschen mit Vorurteilen. Angst vor Stigmatisierung kann gerechtfertigt sein. Noch immer werden Betroffene in vielen Bereichen unserer Gesellschaft als schwach und nicht belastbar abgestempelt, ausgegrenzt, abgehängt. Zu Unrecht, wie meine eigene Geschichte, genau wie die vieler anderer funktionierender und leistungsstarker Betroffener zeigt.
Ich selbst habe aus Angst vor dem Stigma 15 Jahre meines Lebens die Maske der heilen Welt getragen. Während meiner Depressionserkrankung im Alter von 15-20 Jahren genauso wie bei meiner Essstörungsdiagnose mit 28. Jahrelange ambulante Therapien in den verschiedensten Verfahren und zwei Klinikaufenthalte waren genauso Teil meines Lebens wie mein vordergründiger »High Performer«-Weg mit Einser-Abitur, Studium der Biochemie mit Bestnoten, Forschung in der Medikamentenentwicklung – nur eben geheim.
Wie viel Energie mich dieses doppelte Spiel all die Jahre gekostet hat, merkte ich erst nach seinem Ende vor 4 Jahren.
Erst da merkte ich, dass beide Seiten zu mir gehören dürfen, dass ich mich für meine psychischen Erkrankungen nicht schämen muss, dass ich aufhören darf, diesen wesentlichen Teil meines Lebens zu verheimlichen.
Erst da habe ich begriffen, dass es nicht mein individuelles Versagen ist, dass nicht ich, Anna, als einziger Mensch auf diesem Planeten zu schwach bin für die Anforderungen dieses Lebens und unserer Gesellschaft. Ich habe begriffen, dass psychische Belastungen zu unser aller Leben dazugehören. Dass wir alle lernen müssen, damit umzugehen, um gesund zu bleiben.
Diese Erkenntnis trage ich seit vier Jahren in die Welt. Am 10.Oktober genauso wie an den übrigen 364 Tagen im Jahr.
Indem ich informiere und aufkläre. Indem ich zeige, dass psychische Krisen und Erfolg sich nicht ausschließen. Indem ich zur Selbstreflexion anrege. Indem ich Räume öffne, über dieses Thema wertfrei zu sprechen. Indem ich Mut mache, sich bei Problemen frühzeitig Hilfe zu suchen. Mut mache, die eigene Gesundheit ernst zu nehmen, auch und gerade die psychische.
Ich habe 15 Jahre Krankheit gebraucht, um zu begreifen: Wir alle haben nur dieses eine Leben. Wir sollten dafür sorgen, dass wir glücklich sind.
Du möchtest mehr über das Thema, mich persönlich oder meine Arbeit erfahren? Dann klick Dich gerne durch meine Website oder melde Dich persönlich bei mir. Ich freu mich!
Deine Anna
Du möchtest mehr zum Thema Mental Health erfahren? Z.B. im Rahmen der »Woche der Seelischen Gesundheit«, rund um den internationalen Tag der Seelischen Gesundheit am 10. Oktober finden zahlreiche Informations- und Mitmach-Events statt.
Über Anna Sophia Feuerbach
Jung, schön, erfolgreich - im Geheimen psychisch krank.
Das war lange Jahre Annas Profil.
Heute setzt sie sich mit ihrer fachlichen Expertise als Naturwissenschaftlerin und ihren Erfahrungen als ehemals selbst Betroffene dafür ein, das Tabu-Thema psychische Erkrankung gesellschaftsfähig zu machen.
Als Rednerin und Trainerin bringt Anna als Mental Health Expertin das Thema auf die Bühne, in die Medien, in Universitäten, Schulen und Unternehmen. Sie informiert, klärt auf, entstigmatisiert. Auf ihren Veranstaltungen gelingt es Anna durch völlige Authentizität und ihre Empathie für alle Seiten, ein Klima der Offenheit zu schaffen. So ermöglicht sie den Zuhörer ihr eigenes Leben angst- und vorurteilsfrei zu reflektieren und unumwunden all ihre Fragen zum Thema psychische Erkrankungen zu klären.
Mehr über Anna und ihre Arbeit erhältst du auf Annas Homepage.