Berufe für Introvertierte - so entfaltest du deine stille Power

Bist du introvertiert und auf der Suche nach dem richtigen Job? In diesem Artikel stellen wir dir 3 wichtige Kriterien vor, auf die du achten kannst, um als introvertierte Person berufliche Erfüllung zu finden. Anders als du vielleicht vermutest, spielt die Tätigkeit an sich keine allzu große Rolle - andere Faktoren jedoch schon.

Tingey Injury Law Firm on unsplash.com
von Team, 1. Juni 2023 um 14:32

Eigentlich wollte ich einen Artikel mit dem Titel »Clevere Berufsideen für Introvertierte« schreiben. Die ursprüngliche Idee war es, 5-8 ganz konkrete Berufe vorzustellen, die sich besonders gut für introvertierte Personen eignen - und solche, von denen Intros lieber die Finger lassen sollten. Im Laufe der Recherche und meiner eigenen Reflexion als introvertierte Person kristallisierte sich jedoch eine interessante Erkenntnis heraus: In Wahrheit gibt es keine »Berufe für Introvertierte«. Zumindest nicht in der Form, in der ich dachte. Wenn du introvertiert und auf der Suche nach dem passenden Job bist, empfehle ich dir, dich davon zu lösen, in bestimmten Berufsbezeichnungen oder Tätigkeitsfeldern zu denken. 

Stattdessen gibt es meiner Meinung nach drei Faktoren, die maßgeblich bestimmen, ob du als Intro in deinem Job glücklich bist oder nicht - und die Tätigkeit an sich ist keiner davon. Schauen wir uns einmal diese drei Fragen an, die einen großen Einfluss auf deinen Erfolg und deine Erfüllung im Berufsleben haben: 

Wie sieht dein Arbeitsumfeld aus?

Wenn du introvertiert bist, spielt der physische Arbeitsplatz per se eine große Rolle. Am besten kannst du in reizarmen Umgebungen arbeiten. Das bedeutet: Keine Geräuschkulisse im Hintergrund wie z.B. Radio, Telefonklingeln oder Kolleg:innen, die sich unterhalten oder telefonieren. Außerdem kannst du deine beste Leistung erbringen, wenn du genug Raum und Zeit zur Verfügung hast, alleine zu arbeiten, deine Ideen zu entwickeln und dir in Ruhe kreative Lösungen oder Vorschläge zu überlegen. Diese Art von Arbeitsumfeld ist für deine Potenzialentfaltung und deine Arbeitsqualität wichtiger als das, was letztendlich deine Aufgabe ist. Sehen wir uns das mal anhand eines Beispiels an:

In vielen Artikeln, die ich gelesen habe, wird suggeriert, dass es bestimmte Berufe gibt, die für Introvertierte besonders gut geeignet sind. Einer davon, der immer wieder genannt wird, ist z.B. Texter:in bzw. Blogger:in. Und das hat auch eine gewisse Berechtigung, denn nicht nur ist die Schriftform das bevorzugte Kommunikationsmittel vieler introvertierter Personen, sondern es handelt sich auch um einen Beruf, den man besonders gut im Home Office und alleine ausüben kann. Und genau das ist der springende Punkt - nicht unbedingt die Berufsbezeichnung. Denn: Stelle dir einmal vor, du müsstest als Texter:in in einer großen Agentur jeden Tag in einem Großraumbüro arbeiten, wo du keine Rückzugsmöglichkeit hast. Du würdest beispielsweise mit 5, 10 oder 20 Kolleg:innen gemeinsam in einem Raum arbeiten, würdest deren Tippen auf der Tastatur hören, oft unterbrochen werden durch ein klingelndes Telefon oder jemanden, der an deinen Schreibtisch kommt und eine Frage an dich hat, die du sofort beantworten musst. Dazu kommen jede Menge Meetings, knappe Deadlines und zahlreiche Networking-Events. Wenn du ganz viel Pech hast, gibt es sogar noch Machtkämpfe unter Kolleg:innen, Micro-Management durch Vorgesetzte, oder, noch viel, viel schlimmer: einen Kicker-Tisch im Büro. 

In diesem Umfeld kannst du noch so gern Texte schreiben - du wärst weder glücklich, noch könntest du dein vollstes Potenzial entfalten. 

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Meine Tipps: 

  • Ja, es ist wichtig, dass die Tätigkeit dir Spaß macht und deinen Talenten entspricht. Das ist gar keine Frage. Aber, wenn du gerade in der Berufsorientierungsphase oder auf Jobsuche bist, widme dem Arbeitsumfeld mindestens genauso viel Aufmerksamkeit wie der Tätigkeit an sich. 
  • Stelle sicher, dass du den Großteil deiner Arbeit in einem Einzelbüro oder von Zuhause aus erledigen kannst. 
  • Kläre bereits beim Vorstellungsgespräch ab, wie genau dein Arbeitsplatz aussehen wird und kommuniziere von Anfang an, wie du am besten arbeiten kannst. 
  • Wenn du unzufrieden in deinem jetzigen Job bist, überlege dir, was davon wirklich auf deine Aufgaben zurückzuführen ist bzw. ob es nicht in erster Linie daran liegt, dass du dich dort einer konstanten Reizüberflutung aussetzt. Traue dich, dir die Bedingungen zu schaffen und einzufordern, die du brauchst, um deine beste Arbeitsleistung zu erbringen und deine Arbeit mit Freude zu machen. Suche das Gespräch mit Vorgesetzten und Kolleg:innen. In den allermeisten Fällen sind alle daran interessiert, dass du dich wohl fühlst und deine Arbeit gut erledigen kannst - außer natürlich, wenn du dich in einem toxischen Arbeitsumfeld befindest (und dann hast du ein ganz anderes Problem).

Stehst du zu deinem introvertierten Wesen?

Stelle dir nun zwei verschiedene Personen vor, die im Vertrieb für dieselbe Firma arbeiten und dasselbe Produkt verkaufen. Nennen wir sie einmal Julian und Nadja. 

Julian ist der typische charismatische Entertainer. Er verfügt über ein gewinnendes Lächeln und einen festen Händedruck. Er hält eine Präsentation vor mehreren Menschen, zieht sie mit seiner positiven Ausstrahlung in den Bann und steckt die potentiellen Kund:innen im Nu mit seiner Begeisterung für das Produkt an. Er ist locker, sympathisch und hin und wieder streut er witzige Bemerkungen in seinen Vortrag ein. Danach trifft er sich noch mit den Geschäftspartner:innen zum gemeinsamen Mittagessen oder auf ein Bier, weil er genau weiß, dass dort die richtig guten Deals zustande kommen. Und das tun sie auch, denn die Menschen vertrauen Julian. Er ist einfach so ein netter und sympathischer Typ, mit dem man immer wieder gerne Geschäfte macht. Julian liebt seinen Job.

Seine Kollegin Nadja liebt ihren Job ebenfalls. Sie trifft sich am liebsten 1:1 mit einer Vertreterin der Kundenfirma in deren Einzelbüro oder sonst leerem Besprechungsraum. Sie stellt der potentiellen Käuferin jede Menge Fragen. Was ist ihr wichtig? Welche Probleme hat sie und wie kann Nadjas Produkt diese lösen? Welche Sondereigenschaften sollte das Produkt haben? Was wünscht sich die Kundin? Sie hört der Kundin zu und macht sich Notizen. Im ganzen Gespräch ist der Redeanteil der Kundin bedeutend größer als der von Nadja. Doch Nadja ist top-vorbereitet. Sie weiß alles über das Produkt bis ins kleinste Detail und ist bereit, jede Frage zu beantworten. Natürlich kommt am Ende ein Verkauf zustande, weil sich die Kundin von Nadja gesehen und verstanden fühlt. Sie spürt, dass es Nadja wichtig ist, auf ihre Wünsche einzugehen und eine gute Lösung für sie und ihr Unternehmen zu finden.

Wenn du nun der/die Inhaber:in eines neuen Unternehmens wärst und dein Vertriebsteam aufbauen würdest: Wen würdest du einstellen - Nadja oder Julian? Ich hoffe sehr, dass deine Antwort lautet: »Na, am besten beide!« 

Wahrscheinlich hast du beim Lesen bereits gemerkt, dass Julian eher extravertiert und Nadja eher introvertiert ist. Bei meinen Recherchen habe ich immer wieder festgestellt, dass der Vertrieb einer der Tätigkeitsbereiche ist, von denen introvertierten Personen oft generell abgeraten wird. Ich bin da anderer Meinung. Nadja ist zwar eine fiktive Person, doch es gibt Menschen wie sie auch in der Realität  - Introvertierte, die richtig gut sind in Berufen, die auf den ersten Blick eher besser für Extravertierte geeignet zu sein scheinen. Warum ist Nadja so gut und so erfüllt in diesem Job? 

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Der erste Faktor, der natürlich stimmen muss, ist, wie oben bereits beschrieben, das Arbeitsumfeld. Doch ein zweiter, entscheidender Punkt, der auf Nadja zutrifft, ist, dass sie sich nicht verstellt. Anstatt sich mit Julian zu vergleichen und sich dazu zu zwingen, ihr Ziel mit Strategien zu erreichen, die ihrem Wesen überhaupt nicht entsprechen (wie z.B. Präsentationen vor mehreren Menschen halten, abends noch mit den Geschäftspartner:innen ausgehen, usw.), spielt sie ihre eigenen Stärken aus: die Stärken ihrer introvertierten Persönlichkeit. Sie weiß, dass sie im 1:1 Gespräch am besten überzeugt, dass sie inhaltlich gut vorbereitet sein will, um Sicherheit auszustrahlen, und dass sie besser durch aufmerksames Zuhören punktet als durch Reden. Würde Nadja dasselbe tun wie Julian, wäre sie sicher nicht so erfolgreich - und umgekehrt gilt das natürlich auch.

Damit möchte ich sagen, dass es gar nicht so wichtig ist, was du tust - viel wichtiger ist es, dass du es auf deine eigene Art und Weise tust und Verantwortung dafür übernimmst. Im Englischen würde man sagen: »own it!«. Versuche gar nicht erst, extravertiertes Verhalten nachzuahmen, sondern nutze stattdessen deine eigenen Stärken, um in dem, was du tust, Freude zu empfinden und erfolgreich zu sein. Natürlich ist es dafür wichtig, in einem Umfeld zu arbeiten, wo Vertrauen da ist und dir nicht vorgeschrieben wird, wie du deinen Job machen sollst.

Meine Tipps: 

  • Wenn du dich auf Jobs bewirbst, dann achte bereits bei der Bewerbung und im Vorstellungsgespräch darauf, deine individuellen Stärken ehrlich und konkret zu beschreiben. Tue an keiner Stelle im Bewerbungsprozess so, als wärst du extravertierter als du tatsächlich bist. Finde heraus, ob du in dem Job, auf den du dich bewirbst, genug Freiheit haben wirst, um ihn auf deine Art und Weise zu machen. Zum Beispiel kannst du im Bewerbungsgespräch fragen, was genau in der Firma unter »Verhandlungsgeschick« oder »Teamfähigkeit« verstanden wird - denn viele solcher Begriffe kann man sowohl von einer extrovertierten als auch introvertierten Sichtweise her interpretieren. 
  • Wenn du derzeit unglücklich im Job bist, prüfe einmal für dich, ob du dich vielleicht in manchen Situationen verstellst. Könntest du irgendwie mehr von deiner eigenen Persönlichkeit einbringen? Könntest du sogar einmal ausprobieren, ein paar deiner Aufgaben ganz anders anzugehen? Schreibe dir deine Stärken auf und setze dir ganz konkrete Challenges, wie du diese besser in deinen Job einbringen kannst. Vielleicht fühlt es sich dann gleich ein bisschen besser an :) 

Wie gut kennst du deine Bedürfnisse?

Dieser Punkt hängt zwar stark mit dem Arbeitsumfeld zusammen, aber er ist so wichtig, dass er nochmal eine eigene Überschrift verdient. Ich vermute nämlich, dass einige Introvertierte deshalb nicht zufrieden im Job sind, weil sie ihre Bedürfnisse entweder gar nicht kennen oder sich nicht trauen, für diese einzustehen. Schauen wir uns hierfür Nadja nochmal genauer an: 

Nadja weiß nicht nur, dass ihr 1:1 Gespräche besser liegen als ein langer Vortrag vor vielen Menschen. Sie weiß auch, dass sie nach einem auswärtigen Geschäftstermin am liebsten alleine in ihrem Hotelzimmer zu Abend isst und danach in einem Buch liest, anstatt noch mit den Kolleg:innen oder Geschäftspartner:innen in die Bar zu gehen. Sie weiß, dass sie durch Alleinsein und Ruhe ihre Batterien wieder am besten aufladen kann, um für den Termin am nächsten Tag volle Power zu haben. Sie hat im Laufe ihres Lebens ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wann sie sich in eine reizarme Umgebung zurückziehen muss. Für diese Fälle hat sie gelernt, höflich Einladungen abzulehnen, freundlich Nein zu sagen und respektvoll klare Grenzen zu setzen. Sie weiß, dass sie dafür verantwortlich ist, dass es ihrem Geist und Körper gut geht und wie sie dafür sorgen kann. 

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Nicht nur für Introvertierte ist das alles extrem wichtig. Aber ich betone das deshalb so sehr, weil noch immer viele von uns leisen Menschen sich gar nicht erst erlauben, ihre Bedürfnisse anzuerkennen. Da die westliche Arbeitswelt eher für eine extravertierte Persönlichkeit designt zu sein scheint, denken wir vielleicht Dinge wie: »Warum bin ich so komisch?« oder »Ich bin nicht normal, wenn ich so viel Zeit alleine verbringe«. Oder wir sagen zu uns selbst: »Nun reiß dich mal zusammen« oder »Was stimmt nicht mit mir?« oder »Warum fühle ich mich hier so unwohl?« oder »Warum bin ich schon wieder erschöpft?«

Deine Erfüllung im Berufsleben hängt meiner Meinung nach stark davon ab, wie gut du für deine Bedürfnisse einstehst. Wann brauchst du eine Pause? Wie viele Meetings pro Woche sind zu viel? Wann machst du spätestens Feierabend? Magst du es, wenn Arbeit und Privatleben miteinander verschwimmen oder bevorzugst du eine klare Trennung? Jeder Mensch ist anders und auch keine introvertierte Person gleicht einer anderen komplett. 

Mein Tipp: Vergleiche dich bitte, bitte, bitte nicht mit anderen! Achte darauf, was du brauchst, um dich gut zu fühlen und deine Aufgaben mit Leichtigkeit und Freude zu erledigen. Und dann übernimm die Verantwortung dafür - auch wenn deine Bedürfnisse ganz anders sind, als die Bedürfnisse der Menschen um dich herum. Niemand anders ist dafür verantwortlich, dass es dir gut geht - nur du selbst kannst dafür sorgen, dass du alles hast, was du brauchst, um dich wohl zu fühlen und dein Potenzial zu entfalten - das gilt beruflich wie privat. 

Fazit - Du hast es in der Hand

Wie du siehst, gibt es gerade für introvertierte Personen bestimmte Kriterien, die im Job mindestens genauso wichtig sind, wie die Tätigkeit an sich. In diesem Artikel habe ich den Bereich Vertrieb als klassisches Beispiel herangezogen. Gleiches gilt jedoch auch für sämtliche andere Tätigkeiten, die dir vielleicht nicht als erstes einfallen würden, wenn du an Berufe für Introvertierte denkst. Du kannst als introvertierte Person sehr wohl eine gute Führungskraft, eine super Anwältin, ein mitreißender Speaker oder erfolgreich in Bereichen wie Training, Lehramt, Coaching oder Kundenservice sein. Achte nur gut darauf, dass das Arbeitsumfeld deinen Bedürfnissen gerecht wird und stehe voll zu deiner Persönlichkeit mit deinen individuellen Stärken. Trau dich, deine Introversion voll und ganz zu »ownen«!

Bist du introvertiert und eine Einladung zum Assessment Center bereitet dir Bauchschmerzen? Lies hier, wie du auch als leiser Mensch das AC erfolgreich meisterst

In unserem Interview mit Expertin Dr. Sylvia Löhken, kannst du dir mehr Impulse dazu holen, wie du als introvertierte Person glücklich im Berufsleben wirst. 

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